«Die Studie zeigt die kritische allgemeine Situation der Suchtbetroffenen»
Florian Labhart ist einer der Autoren der neuen Studie «Soziale Situation von Suchtbetroffenen». Im Interview spricht er über die Ziele und Rahmenbedingungen der Studie sowie über die Ergebnisse. Die Entwicklung der sozialen Situation von Suchtbetroffenen zwischen 2007 und 2017 bezeichnet er als alarmierend.
Was ist der Rahmen und das Ziel für diese Studie?
Die Studie wurde im Rahmen der Entwicklung des Schweizer Monitoring-Systems Sucht und nichtübertragbare Krankheiten (MonAM) erstellt. MonAM erhebt die Kennzahlen zum Umgang mit Substanzen, zu Suchtverhalten und nichtübertragbaren Krankheiten. Unsere Studie hatte zwei Hauptziele:
1. die Entwicklung theoretischer und methodischer Grundlagen zur Identifizierung und Qualifizierung verschiedener Indikatoren der sozialen Situation der von einer Sucht betroffenen Personen, wobei ausschliesslich bestehende Untersuchungen einbezogen wurden.
2. die Entwicklung einer Berechnungsmethodik, mit der diese Indikatoren in das MonAM integriert werden können.
Was ist für Sie die Haupterkenntnis oder das Fazit der Studie?
Die Resultate zeigen eine Verschlechterung der Lebensbedingungen nach Schwere des Suchtproblems oder der sozialen Ausgrenzung (Anm. der Redaktion: geringerer Anteil Erwerbstätiger, geringerer Anteil stabiler Wohnverhältnisse, mehr sozial isolierte Personen und mehr Personen mit geringem Selbstwertgefühl). Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sind Personen mit einem risikoreichen Substanz- und Glücksspielkonsum eine besonders gefährdete Bevölkerungsgruppe, was ihre berufliche und soziale Integration und ihre psychische Gesundheit anbelangt. Und diese Situation kann sich im Lauf der Zeit tendenziell noch verschlechtern.
Wie sah die Datengrundlage für diese Untersuchung aus und wie sind Sie vorgegangen?
Da in der Schweiz noch keine Studie zu dieser spezifischen Problematik durchgeführt wurde, mussten wir mehr oder weniger bei Null anfangen. Wir benutzten vorerst vier Datenquellen, um einen Überblick über die Tragweite und die Vielfalt der Lebenssituationen der von Sucht oder gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffenen Personen zu gewinnen. Damit sollte das gesamte Spektrum abgedeckt werden, von hoch suchtgefährdeten, aber gut integrierten, bis zu schwer abhängigen und ausgegrenzten Personen.
Um die gesellschaftliche Situation dieser Personen abzubilden, stützten wir uns schliesslich auf die Daten der Personen, die ambulant oder stationär behandelt werden. Diese Resultate haben wir dann mit denjenigen der Allgemeinbevölkerung verglichen, um die Besonderheiten der sozialen Situation von Suchtbetroffenen festzustellen.
Welche Bereiche der sozialen Situation von Suchtbetroffenen wurden untersucht?
Die Auswahl der Indikatoren war an zwei Bedingungen geknüpft: Sie sollten theoretisch relevant und aufgrund der bestehenden Datenquellen quantifizierbar sein. Wir haben uns auf fünf Indikatoren konzentriert: den Bildungsstand, das selbstständige Erwerbseinkommen, das wir «Beschäftigungsfähigkeit» nannten, die Wohnsituation, der Grad der sozialen Isolation und die Verinnerlichung der Selbstabwertung. Verschiedene weitere Faktoren, wie beispielsweise der körperliche Gesundheitszustand, die gesellschaftliche Teilhabe, das Einkommen oder die Ernährung wären ebenfalls von Bedeutung. Hier fehlen jedoch messbare Daten.
Die Analysen stammen aus den Jahren 2007, 2012 und 2017. Wir haben die soziale Situation in Verbindung mit dem problematischen Konsum von fünf Arten von Suchtmitteln untersucht, Alkohol, Tabak, Cannabis, Kokain und Derivate sowie Opioide, und eine Verhaltensweise, die Glücks- und Geldspielsucht.
Wie hängen diese Bereiche zusammen, respektive bedingen sich?
Die Indikatoren sind teilweise direkt oder indirekt miteinander verbunden. Beispielsweise schränkt ein tiefes Ausbildungsniveau die Möglichkeit ein, sich in den Arbeitsmarkt zu integrierten, und eine instabile Wohnsituation kann einen negativen Einfluss auf die sozialen Beziehungen und das Selbstwertgefühl haben.
Alle diese Indikatoren weisen zwei gemeinsame Merkmale auf: Das erste betrifft ein erhöhtes körperliches, soziales oder emotionales Prekarisierungsrisiko. Das zweite betrifft die Tatsache, dass die Indikatoren gleichzeitig Ursache oder Folge eines Suchtproblems sein können. So können berufliche Schwierigkeiten zu einem erhöhten Alkoholkonsum führen, woraus wiederum grössere berufliche Schwierigkeiten erwachsen können. Alle diese Indikatoren weisen darauf hin, dass so ein Teufelskreis entsteht und die Prekarität sich mit einem grösser werdenden Suchtproblem verschlimmert.
Was sind die Haupterkenntnisse Ihrer Studie in Bezug auf die soziale Situation von Suchtbetroffenen?
Die Studie zeigt, dass diese Menschen prekärere Lebensumstände haben als die übrige Bevölkerung. Über alle untersuchten Suchtmittel und Verhalten hinweg betrachtet, sind bis 6-mal mehr Betroffene auf Arbeitssuche und bis 28-mal mehr auf Sozialhilfe oder die Invalidenversicherung angewiesen. Es gibt auch einen sehr hohen Anteil von Jugendlichen in Ausbildung, die zu den Risikogruppen der Cannabiskonsumentinnen und -konsumenten gehören, bei denen das Risiko besteht, dass sie bei andauerndem Konsum keine Ausbildung abschliessen. Der Anteil von Personen mit einer instabilen Wohnsituation (Anm. der Redaktion: Wohnen in institutionellen Wohnsettings, bei Angehörigen oder auf der Strasse) ist bei Personen mit einem Glücks- und Geldspielproblem und den Konsumenten von illegalen Suchtmitteln besonders hoch.
Wie hat sich die soziale Situation von Suchtbetroffenen entwickelt?
Die Entwicklung zwischen 2007 und 2017 ist alarmierend. So hat beispielsweise der Anteil von suchtmittel- oder spielsuchtgefährdeten Personen, die von der Sozialhilfe leben, deutlich zugenommen. Auch der Anteil der suchtmittel- und spielsuchtgefährdenten Personen ohne Schulabschluss hat sich erhöht, was dazu führt, dass es für sie schwierig ist, eine Ausbildung abzuschliessen und sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Auch der Anteil von Personen mit immer wiederkehrenden Aufenthalten in stationären Einrichtungen (Pflegeeinrichtungen, Heime, Gefängnis) hat zugenommen, wodurch sich das selbstständige Wohnen erschwert. Schliesslich lässt sich auch eine langsame, aber stetige Zunahme von Menschen in sozialer Isolation beobachten. Angesichts dieser sich verschlechternden sozialen Situation sind korrigierende Massnahmen wichtig, um diesem Trend entgegenzuwirken.
Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich von dieser Studie – z.B. in der Politik, für die Gesellschaft oder in der Entwicklung der Angebote für Suchtbetroffene?
Die Studie zeigt die kritische allgemeine Situation der Suchtbetroffenen. Sie leiden unter vielen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen und die Wiedereingliederungschancen sind gering. In einer immer stärker leistungsorientierten Gesellschaft, in der die Selbstwahrnehmung identitätsstiftend ist, sind Stigmatisierung, Prekarität, dauernde Niederlagen und Selbstabwertung sehr schwer zu ertragen. Angesichts der Entwicklung zwischen 2007 und 2017 sind die Perspektiven für die Betroffenen eher düster, wenn das allgemeine und politische Bewusstsein nicht besteht, dass die gesellschaftliche Teilhabe und Integration zentral sind bei der Suchtbekämpfung. Doch schon die Tatsache, dass das BAG diese Problematik thematisiert, ist ein positives Zeichen.